Bald dürfen wir hoffentlich wieder alles machen, was wir wollen. Aber ist das Freiheit? Zeit für ein paar grundlegende Gedanken.
Im letzten Jahr habe ich ziemlich oft über Freiheit nachgedacht. Klar hatte (und habe) ich wie alle mit vielen Einschränkungen zu leben: nicht tanzen gehen, nicht ins Fitnessstudio, nicht nach 21 Uhr aus dem Haus, nicht reisen, wohin ich will, beim Einkaufen Maske tragen. Aber fühlte ich mich wirklich unfrei?
Nein, unfrei fühlte ich mich trotz allem nicht. Das fand ich erst mal seltsam. Ich kann nicht tun und lassen, was ich will, und fühle mich trotzdem nicht unfrei? Bin ich schon so angepasst und widerstandsmüde, dass ich jegliche Einschränkung meiner Freiheitsrechte klaglos hinnehme? Dachte ich eigentlich nicht.
Wo Freiheit herkommt
Wie immer, wenn ich ratlos bin, schlage ich zuerst im Duden nach. Da steht unter dem Eintrag „frei“ zu Herkunft:
mittelhochdeutsch vrī, althochdeutsch frī; in der germanischen Rechtsordnung ursprünglich = zu den Lieben (= zur Sippe) gehörend (und daher geschützt); eigentlich = lieb, erwünscht, […] siehe Freund
Jetzt war ich erst recht verwirrt. Da steht nichts von tun und lassen, was man will. Eher im Gegenteil, die Verbundenheit mit unseren Lieben macht uns frei. Hier sind wir lieb und erwünscht und damit sicher.
Sicher vor was? Klar, vor Unfreiheit. Zu Zeiten der Germanen war die Freiheit sehr real bedroht, in friedlichen Zeiten durch Schuldknechtschaft, in Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen durch Sklaverei. Das war nicht nur in Germanien so, sondern in der gesamten antiken Welt. Der Begriff von Freiheit hatte sich daher an der Sklaverei zu messen.
Sklaverei als Maßstab
Was bedeutet nun Sklaverei im Kern? Wohl kaum, dass man abends um neun zuhause sein muss. Vielmehr, dass man aus seinem sozialen Zusammenhang gerissen wird und keine verlässlich dauerhaften sozialen Bindungen aufbauen kann. Im Gegenschluss definiert sich der Begriff von Freiheit:
Freiheit ist „die Fähigkeit, mit anderen moralische Bindungen einzugehen und aufrechtzuerhalten […], Freunde zu finden, Zusagen einzuhalten und in einer Gemeinschaft Gleichberechtigter zu leben.“
Sagt der Anthropologe David Graeber und belegt das unter anderem am Rechtsbrauch im alten Rom: „Deshalb erhielten freigelassene Sklaven in Rom das Bürgerrecht: Frei zu sein bedeutete definitionsgemäß, dass man in einer Bürgergemeinschaft verankert war, mit allen Rechten und Pflichten, die das nach sich zog.“
Die Freiheit des Imperiums
Diese römische Sichtweise veränderte sich jedoch laut Graeber ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. allmählich. Die Römer, Herrscher der Welt, umsorgt von Sklaven von früh bis spät, sahen sich selbst nicht mehr von Sklaverei bedroht. Der Freiheitsbegriff wurde daher mehrmals uminterpretiert, bis er sich „fast gar nicht mehr von der Macht des Herren unterschied“. So steht dann schließlich in den Pandekten, einer spätantiken Sammlung von Rechtstexten:
„Freiheit ist die natürliche Fähigkeit, alles zu tun, was man wünscht, sofern es nicht durch Gesetzeskraft untersagt ist.“
Das klingt schon sehr nach dem gängigen Freiheitskonzept von heute. Kein Wunder, denn die Pandekten wirkten bis in die Neuzeit nach und mit ihnen das römische Konzept von Freiheit. Der entscheidende* Twist: Die Gemeinschaft ist nicht mehr notwendige Bedingung für Freiheit, sondern nur noch ein begrenzender Faktor im angehängten Halbsatz:
… sofern es nicht durch Gesetzeskraft untersagt ist.
Diese Einschränkung gibt es in mehreren Varianten, mit und ohne Gemeinsinn, z. B.:
- … sofern es nicht die Freiheit eines anderen berührt.
- … sofern sich keiner (wirksam) beschwert.
- … solange man sich nicht erwischen lässt.
Das Recht des Stärkeren
Die letzten beiden Varianten sind übrigens häufiger, als man annehmen möchte. Beispielsweise sind das im Kleinen Geschwindigkeitsüberschreitungen, im Größeren systematische Steuerhinterziehung und Ausbeutung von Leiharbeitern, im Übelsten Abholzung von Regenwald und die Ermordung derer, die dagegen aufbegehren.
Hier tritt ungeschminkt hervor, was dieses römische Verständnis von Freiheit letztendlich bedeutet: das Recht des Stärkeren. Denn nichts anderes heißt „alles zu tun, was man wünscht“, wenn man es zu Ende denkt und praktiziert.
Kollision der Freiheitskonzepte
Miese Aussichten? Nicht ganz. Auch wenn scheinbar das römische Freiheitskonzept vorherrscht: Das „antike“ ist immer noch da. Es tritt dann deutlich zutage, wenn die Freiheit fundamental bedroht ist. Das war so in der Pandemie. Denn wie Sklaverei reißt auch eine lebensbedrohliche Krankheit die Betroffenen aus ihren sozialen Bindungen heraus. Die Angehörigen und jene, die einen schweren Verlauf überlebt haben, können ein Lied davon singen.
Die meisten haben zum Glück begriffen, dass sie nicht ihre „antike“ Freiheit verlieren, wenn ihre „römische“ Freiheit eingeschränkt wird. Sie haben im Gegenteil begriffen, dass die Freiheit der Verletzlichsten unter uns geschützt werden muss. Sie haben begriffen, dass wir die Gemeinschaft sind, die das tun muss.
Hilfe für die Helfenden
Im Gegenzug ist die Gemeinschaft aber auch in der Pflicht jenen zu helfen, die durch die einschränkenden Maßnahmen bedroht sind, sei es in ihrer wirtschaftlichen Existenz, sei es in ihrer emotionalen Gesundheit. Mit letzterem tut der Staat sich schwer, das Wirtschaftliche fällt ihm da leichter, auch wenn nicht immer für alle zufriedenstellend.
So oder so sind Staatshilfen keine Almosen, sondern eine Notwendigkeit. Sie sind wichtig zum Überleben, wichtiger noch für den Zusammenhalt. Denn den werden wir auch in Zukunft brauchen, wenn – Achtung! Pathos – wir eine lebenswerte Zukunft haben wollen.
Lesenswert, nicht nur der Freiheit wegen: David Graeber: Schulden. Die ersten 5.000 Jahre. Goldmann 2012. Die Zitate sind aus der 6. Auflage 2014, S. 258.
* Graeber verknüpft das römische Konzept der Freiheit mit dem römischen Eigentumsbegriff mit seinen vielfältigen Auswirkungen auf unser heutiges Leben. Das würde aber hier zu weit führen.