Die Wahrheit hat es in Krisenzeiten wirklich nicht leicht. Eine kurze Analyse.
Wahrheit ist eine Eigenschaft von Aussagen. Wahr ist eine Aussage dann, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Jedenfalls nach der Korrespondenztheorie. Das Ganze ist etwas komplizierter, erst recht, wenn Sie einen Philosophen fragen. Für den Alltag reicht uns das aber.
Beispiel: Wenn Regen fällt und ich sage: „Es regnet“, dann ist das eine wahre (subjektive) Aussage über eine (objektive) Tatsache. Mancher wird schauen, ob nicht doch jemand zu großzügig im Obergeschoss Blumen gießt. Nein, es regnet wirklich, aus echten Wolken. Also ist das die Wahrheit. Außerdem hat’s die Wettervorhersage vorhergesagt.
Wahrheit und Zusammenhang
Nun ist die Wirklichkeit selten so einfach, eigentlich nie. Wirklichkeit ist eine Bitch. Man könnte auch sagen: komplex. Heißt: Selbst eine wahre Aussage bildet immer – immer! – nur einen Teilaspekt der Wirklichkeit ab, ist also eine Vereinfachung. Das ist bei banalen Ereignissen wie Regen nicht weiter tragisch. Aber man sollte wissen, dass eine einzelne wahre Aussage, im Zusammenhang betrachtet, eine ganz andere Bedeutung bekommen kann.
Der Umgang mit den Zahlen zur Corona-Pandemie macht das überdeutlich. Die Hobbystatistiker schießen ja gerade wie Pilze aus dem Boden. Jede Zahl wird wie eine Ikone behandelt. Dabei ist es gar keine Ikone, sondern Teil eines riesigen Gemäldes von Hieronymus Bosch, um im Bild zu bleiben.
Dieser quasi-religiöse Umgang mit Zahlen zeigt vor allem eins: Verzweiflung. Wir wollen Gewissheit um jeden Preis, auch wenn gerade keine zu haben ist. Religion hat nun aber ein etwas anderes Verständnis von Wahrheit, die Wirklichkeit als Prüfstein ist da nicht so wichtig.
Wahrheit in der Krise
Dabei sind nicht die Zahlen, sondern die Zusammenhänge das Herz der Statistik. Übrigens eine akademische Disziplin, die für viele Fachrichtungen bedeutend ist. Und an der nicht wenige ansonsten intelligente Studierende verzweifeln. Dennoch halten offenbar viele Statistik nicht für komplizierter als eine App, mit der sich die Zahlen von Torvorlagen und Doppelpässen vergleichen lassen. Oder eben von Corona-Toten.
Der Mensch hat es halt gerne einfach. Da werden dann die merkwürdigsten Dinge in Zusammenhang gebracht. Ein wenig Nachdenken würde mitunter helfen, aber das scheint vielen zu anstrengend, oder ihnen fehlt die Übung oder beides.
Wenn dann die Ungeübten es doch mit Zusammenhang versuchen, geht’s oft schief. Schlimm, wenn sie es mit Überzeugung tun. Ganz arg, wenn sie mutwillig zu kurz denken, weil es so schön populär klingt. So führen dann auch wahre Aussagen zu falschen Schlüssen, sozusagen zu Kurzschlüssen. Und dann kommt die Wahrheit in die Krise.
Lass uns reden
Natürlich sehen selbst Profis nicht immer das ganze Bild. Im Gegenteil: Niemand ist jemals in der Lage, den gesamten Zusammenhang zu erfassen (von Gott mal abgesehen, aber die ist auch nicht immer erreichbar).
Profis behaupten das aber auch nicht. Im Zweifelsfall halten sie – hoffentlich – lieber den Mund, anstatt wild herumzuspekulieren. Doch auch wenn sie etwas zu sagen haben, stellen sie das erst einmal zur Diskussion. Sie reden drüber.
Das ist der übliche Vorgang wissenschaftlichen Arbeitens. Das ist Sinn und Zweck von Parlamenten, von französisch „parler“, reden. Ein Zerrbild von dem ist auch das, was gerade in den sozialen Netzwerken abgeht, nur eben ungeregelter, ungeübter und verbohrter. Darum ist das gerade sehr anstrengend. Was ist eigentlich aus den ganzen Katzenvideos geworden?
Zusammenhang oder Zusammenhalt
Zurück zum obigen Beispiel mit dem Regen. Selbst hier ist der Zusammenhang entscheidend, und zwar der soziale. Also, wo ich den Satz wann zu wem sage.
Nehmen wir an, ich sage „Es regnet“ während einer Autofahrt, bei der meine Frau am Steuer sitzt. Die wird sagen: „Na und, soll ich jetzt vielleicht in Panik ausbrechen, oder was? Außerdem hättest du ja mal die Wischblätter wechseln können.“
Oder ich fahre mit meiner Mutter in Urlaub, sage den Satz an der Schweizer Grenze, sagt die: „Oh Gott, hab ich die Wäsche reingenommen? Dreh bitte um.“
Oder mein Nachbar sagt den Satz, während ich neben ihm in seinem nagelneuen SUV sitze. Ich antworte: „Wird schon keinen Kratzer in den Lack machen. Die Dreckskiste hat doch Allradantrieb, oder? Freut sich ja vielleicht sogar über Regen, wenn sie schon keinen Schlamm sieht wie in der Werbung. Regnet eh viel zu wenig. Und überhaupt, die Strecke hätten wir auch besser mit der Bahn fahren können.“ Zack, steh ich auf der Straße, im Regen. Wie gesagt: Bitch.